Der Fachkräftemangel bremst die deutsche Wirtschaft aus. Qualifizierte Kandidat:innen wissen mittlerweile, dass sie sich auf einem Bewerbermarkt bewegen und kennen ihren Wert. Der Druck auf Recruiter:innen steigt spürbar. Vernachlässigt wird dabei jedoch allzu oft das Thema Mitarbeiterbindung: Denn wer bleibt, muss nicht erst nachbesetzt werden. Unternehmen, die ein attraktives Umfeld schaffen, sind im Vorteil. Doch was bedeutet das genau und welche Faktoren machen wirklich einen Unterschied?
Sie versuchen schon seit Wochen einen Handwerkertermin zu vereinbaren? Der Steuerbescheid lässt auf sich warten? Und der Koffer, der beim letzten Urlaub verlorengegangen ist, ist auch immer noch nicht wieder aufgetaucht? Der Grund liegt auf der Hand: Fachkräftemangel, dazu aktuell wieder viele coronabedingte Ausfälle – und das ist erst der Anfang. Von Jahr zu Jahr klafft die Schere zwischen unbesetzten Arbeitsplätzen und geeigneten Kandidat:innen immer weiter auseinander.
Der Fachkräftemangel gilt mittlerweile als größtes Wachstumshemmnis und bedroht – neben Materialknappheiten und Energiepreissteigerung – die Zukunftsfähigkeit vieler Unternehmen. Während in den kommenden Jahren immer mehr Menschen in Rente gehen, rücken nur halb so viele nach. Die Zahl der potenziellen Arbeitskräfte in Deutschland wird sich binnen eines Jahrzehnts um mehr als zehn Prozent verringern, rechnet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vor. Die demografischen Daten bedeuten enorme Herausforderungen für die Recruiter:innen. Inzwischen dauert die Suche nach Mitarbeitenden fast doppelt so lange wie noch vor zehn Jahren.
Wenige fühlen sich ihrem Arbeitgeber „sehr verbunden“
Der Herausforderung des Findens folgt die des Bindens – oder neudeutsch ausgedrückt: der „Retention“. Denn mit der Generation der Babyboomer, die viel Wert auf Stabilität legte, geht auch die Bereitschaft, sich langfristig an einen Arbeitgeber zu binden. So ergab eine Befragung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY Anfang 2022 unter 1.500 Angestellten, dass derzeit fast die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland auf dem Sprung ist, vor allem junge Angestellte und Frauen. Nur 22 Prozent fühlen sich ihrem Arbeitgeber „sehr verbunden“ – ein Rekordtief.
Flexible Lebensentwürfe prägen die kommenden Generationen von Arbeitnehmer:innen. Hinzu kommt, dass die Pandemie mobiles Arbeiten und hybride Organisationsstrukturen in vielen Bereichen zum New Normal gemacht hat. Gesuchte Fachkräfte wissen bereits, dass sich eine Kehrtwende vom Arbeitgeber- zum Bewerbermarkt vollzogen hat. Sie können sich ihre Arbeitgeber aussuchen. Und genau das tun sie auch.
Ein Arbeitsumfeld schaffen, das Mitarbeitende langfristig hält
Um es klar zu sagen: Es wird immer Fluktuation in Unternehmen geben – und in einem gewissen Maße ist das auch durchaus gesund für eine Organisation, die nicht Gefahr laufen will, „im eigenen Saft zu schmoren“. Doch stellt sich trotzdem die Frage, was es braucht, um ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das Mitarbeitende langfristig hält. Denn das erspart nicht nur den Recruiter:innen Zeit und Aufwand für das Einstellen neuer Mitarbeitender, sondern sichert ganz grundsätzlich die Arbeits- und damit Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.
Hierbei spielen die gerne unterschätzen, weil scheinbar „weichen“ Faktoren eine wesentliche Rolle. Denn die Bereitschaft zu bleiben, hat viel mit dem richtigen Umfeld und echter Wertschätzung zu tun. Wer möchte sich schon länger als nötig auf einer Party aufhalten, auf der die Musik nicht stimmt und keiner mit einem spricht?
Drei Ansätze, wie man mit gezielter Arbeit an der Unternehmenskultur für mehr Retention sorgt:
- Arbeiten Sie dauerhaft an der Führungs- und Kommunikationskultur!
Das Gefühl, von Vorgesetzten oder Kolleg:innen nicht verstanden oder wertgeschätzt zu werden, wirkt sich unmittelbar auf Zufriedenheit, Motivation und damit auch Produktivität der Mitarbeitenden aus. Gehen Sie das Thema deshalb strategisch an: Schaffen Sie für alle zugängliche Dialogangebote und entwickeln Sie gemeinsam mit den Mitarbeitenden Führungs- und Kommunikationsleitlinien. So weiß jede:r, was die Dos und Don’ts sind. Achten Sie vor allem auch darauf, dass die Leitlinien immer wieder thematisiert werden und nicht in der Schublade verschwinden. Ganz wichtig beim Thema Kommunikation: das Vorleben durch das Top Management. Denn der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf.
- Schaffen Sie Raum für Entwicklung und Innovation!
Viele haben bereits erlebt, dass vor allem die selbstbewussten Kolleg:innen schnell Karriere machen. Das führt allzu oft dazu, dass zurückhaltendere High-Potentials sich langfristig anderweitig umsehen. Setzen Sie deshalb bei Qualifizierung und Beförderung die Scheuklappen ab – nicht nur die Lauten haben es verdient, beachtet zu werden. Echte Innovation braucht aber noch mehr, nämlich eine Kultur, die Fehler – die ohnehin passieren – zulässt und diejenigen, die sie gemacht haben, nicht stigmatisiert. Vielmehr sollten sie als Inputgeber für systematisierte Lernprozesse betrachtet werden. Diese gilt es zu entwickeln und dann auch konsequent zu nutzen. Denn nur so ist echte Unternehmensentwicklung möglich.
- Machen Sie Veränderung zu einem gemeinsamen Anliegen!
Eine Unternehmenskultur, die Mitarbeitende in ruhigen Zeiten bindet, ist viel Wert. Allerdings zeigt sich erst im Change, wie belastbar das Miteinander wirklich ist. Achten Sie deshalb darauf, Change-Prozesse von vornherein zu managen. Hierfür braucht es eine Kommunikationsplanung, die sicherstellt, dass jede:r die Informationen erhält, die sie/er zum jeweiligen Zeitpunkt benötigt und so ein Verständnis für das Gesamtvorgaben entwickeln kann. Es braucht aber auch Prozesse, die echte Beteiligung ermöglichen – nicht nur im Sinne der Akzeptanz der Veränderung, sondern auch, weil die Veränderung selbst davon profitiert, wenn sie nicht im Elfenbeinturm an den wahren Bedürfnissen und Kompetenzen vorbei entwickelt wird. Zusätzlicher Benefit: Durch positiv erlebte Change-Prozesse entsteht eine grundsätzlich positivere Grundhaltung gegenüber Veränderungen im Unternehmen. Das ist genau das, was Sie in einer Welt brauchen, in der ständige Veränderung zur Normalität wird.
Die Arbeit an der Unternehmenskultur ist kein einmaliges Projekt
Sie sehen: Die Arbeit an der Unternehmenskultur ist kein einmaliges, sondern ein dauerhaftes Projekt. Und das fängt bereits beim Recruiting an. Bei Kandidat:innen von vornherein auf die kulturelle Passung zu achten und sich nicht vom Mangel unter Druck setzen zu lassen, ist wichtig. Denn Kolleg:innen, die sich nicht mit dem Unternehmen identifizieren, können schnell viel kaputt machen. Auch wirken sich Kündigungen in der Probezeit negativ auf das Team aus, das sich irgendwann fragt: „Ist unser Arbeitsplatz wirklich so unattraktiv?“
Abschließend sei auch das gerne schnell als reiner Hygienefaktor abgetane Thema Gehalt noch einmal erwähnt. Denn gerade in Zeiten hoher Inflation spielt Geld für viele doch wieder eine wichtigere Rolle. Achten Sie also auf eine marktgerechte Bezahlung – nicht nur bei Neueinstellungen, sondern insbesondere auch bei den Mitarbeitenden, die schon länger dabei sind. Ansonsten wird für diese Gruppe, an der viel Erfahrungswissen hängt, ein Wechsel mit der Zeit immer attraktiver.
Die Unternehmenskultur von heute ist der Umsatz von morgen
Zusammengefasst: In Zeiten des Fachkräftemangels gilt mehr denn je, dass die Unternehmenskultur von heute der Umsatz von morgen ist. Vermeintlich weiche Faktoren machen plötzlich einen harten Unterschied, wenn Mitarbeitende kündigen, weil sie sich nicht wohlfühlen und die Nachbesetzung scheitert. Gestalten Sie deshalb aktiv ein Umfeld, in dem man gerne bleibt.