Kurzverdikt: Lesenswert.
Simon Lindgrens Buch ist ein Lehrbuch zur Soziologie der Digitalen Medien, das einen nahezu umfassenden Überblick über relevante Schlüsselbegriffe, Konzepte, Theorien zu liefern versucht. Es hat eine stark europäisch orientierte Perspektive, d.h. die Betrachtung des Digitalen wird in einen soziologischen Kontext eingebettet, der die Allerheiligen der Soziologie, wie Weber, Durkheim, Simmel, Habermas, ebenso umfasst, wie die Philosophen wie Bourdieu oder Anthropologen wie Malinowski. Doch Lindgren kennt nicht nur die Europäer, sondern ist eben auch mit den Diskussionen in den USA, Kanada oder Japan vertraut.
Mir gefällt gut, dass er versucht, den Bogen zu spannen zwischen bekannten Konzepten und dem neuen Umfeld. Webers Begriff des Sozialen Handelns lässt sich z.B. auf digitale Akte wie dem „Liken“ oder dem „Sharen“ übertragen, hier gibt es aktuelle Ansätze, die den Weberschen Begriff weiterentwickeln.
An anderen Stellen schafft Lindgren es, gegensätzliche Perspektiven zusammenfassend gegenüberzustellen und Synthesen vorzuschlagen. Zum Beispiel bei Themen wie „Digital Citizenship“ oder „Digital Activism“: Hier kennen wir die positivistischen Erwartungen zur transparenten Echtzeit-Demokratie, an der jeder teilhaben kann. Die Diskussion um Filterblasen, Neue Rechte und Manipulation der politischen Willensbildung sind sozusagen der Gegenpol dazu.
Das Buch gliedert sich in vier Teile mit jeweils mehrere Kapiteln. In den ersten beiden Teilen geht es um Themen wie Digital Society, Social Media, Interaction and Identity, Digital Visuality, Citizenship, Power and Exploitation, Activism, Algorithms and Data. Im dritten Teil geht es vor allem um Ansätze zur Erforschung des Digitalen, mit einem sehr starken Fokus auf Digitale Ethnographie.
Im vierten Teil versucht Lindgren die vorher beleuchteten Themen in einer Theorie der Digitalen Medien und des Sozialen Wandels zu vereinigen. Wobei ich „Theorie“ als Begriff hier schon sehr ambitioniert finde. Auf zehn Seiten entwickelt Lindgren vielmehr ein Modell, wie Aspekte des Digitalen – Technologien und die darauf basierenden Möglichkeiten – in Bezug auf Ihre Wirkungen betrachtet werden können. Demnach gibt es drei dieser Wirkungen („Outcomes“), das sind „Digitally Analogue“ (Beispiel E-mail, im Kern wie Post, nur eben anders distribuiert), „Digitally Enhanced“ (Beispiel Online-Dating) und „Digitally Tranformative“ (Beispiel Trolling oder OpenSource-Produktion, also soziale Praktiken, die sich vor allem im Digitalen konstituieren).
Insgesamt für den theoretisch interessierten ein sehr lehrreiches Buch, das einen schnellen Überblick liefert, wenn man nicht die Zeit hat, all die Originalliteratur zu lesen. Für den Nicht-Theoretiker ebenfalls spannend, wenn man daran interessiert ist, aktuelle Diskussionen in einem größeren Kontext zu betrachten und bewerten zu wollen.
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